Scheiß Relativität!
Thomas Sakschewski
„Scheiß Relativität!“ steht im nervösen Zug der Sprühdose an einer Hauswand in Berlin-Kreuzberg. Unweit davon in derselben Handschrift „Scheiß Gravitation!“. Zustimmung finden beide und, ob nun intuitiv oder nach langer Überlegung, treffen beide den Status Quo der Kunst. Kein Statement – sei es noch so provokativ oder polemisch – kommt ohne einen Index der Bezüglichkeiten aus, die sich unter der Last der kunsthistorisch gewachsenen Schwerkraft verbiegen. Das Monstrum einer mäandernden Globalkultur erstickt in einer Flut aus Sekundär- und Tertiärliteratur, die von einer exponentiell wachsenden Anzahl von Vermittlern, Kritikern und Art-Direktoren ausgestoßen werden. Kaum zehn Jahre beginnt dieser, in einem Rausch des Aufbruchs und einem Verlust der Kategorien „Postmoderne“ genannte Prozess, ineinander zu fallen.
Das dichte Netz selbstreflexiver, selbst-selbst reflexiver und selbst-selbst-selbst reflexiver Zeichen kollabiert in dem Maße, in dem die Knotenpunkte des Netzes in Katatonie verfallen oder wie Ratten in einem zu engen Käfig sich selbst auffressen. Den Künstlern heute ergeht es wie den Elementphysikern zwanzig Jahre vor ihnen. Sie suchten Antworten und fanden stattdessen mit Hilfe monströser Beschleuniger unter Aufwendung irrsinniger Energiemengen eine unüberschaubare Vielfalt kurzlebigster Teilchen, deren Sinn und Funktion in der kurzen Lebensspanne eines tausendstel Teils einer Sekunde erklärt werden musste. So versuchen die Sekundärgiganten des Kunstbetriebs, aus dem Konvolut der Kunstproduktion Kategorien zu filtern, um den drohendem Gespenst „Beliebigkeit“ die Stirn zu bieten. Doch nagt diesen Anstrengungen zum Trotz die Oberflächigkeit der Beliebigkeit, d. h. die Oberflächigkeit in der nächst höheren Ordnungsstufe, schon jetzt in der Kunst des Zeitgeistes. Die „Scheiß Relativität“ ist auch oder gerade in der zeitgenössischen Kunst virulent. Beliebigkeit als eine unbeabsichtigte, aber zwingende Folge des Diskurses über die Postmoderne ist mehr als Randphänomen, entwickelt sich zum Turning Point in der Kunst. Die Thematisierung dessen durch Künstler, wie Jeff Koons, Rob Scholte oder Haim Steinbach, ist wichtig gewesen, aber die zeitgeistige Polemik des Niedergangs wg. Indifferenzierbarkeit – die Wiederholungen des totentänzerischen „Rien ne va plus“ – beginnen zu einer Art notwendiger Dekoration zu verflachen; ist die Eintrittskarte zu einem Kunstmarkt selbsterhaltenden Possentheater, in dem die Kritiker und Theoretiker nur noch die Stichworte liefern. Das Lamentieren über die Kunst ist eine Tutti-Frutti-Leistungsshow. Die Party ist aus.
In dem Horror Vacui des Schon-Jetzt-Aber-Noch-Nicht keimt der Versuch, diese zirkulären Strukturen aufzubrechen. Nicht ohne Grund werden dabei die letzten echten Kunstbewegungen in den 60er Jahren diskutiert. Die grundsätzlich veränderten Randbedingungen zur Kunstproduktion implizieren dabei eine außerordentlich innovative Kraft. Mit Randbedingungen sind sowohl die global politischen und sozialen Veränderung innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre, als auch die jüngste Kunstgeschichte gemeint, denn es müssen keine Grenzen (politisch und künstlerisch) mehr eingerissen werden, es muss sich nicht mehr an Akzeptanz und Perzeptionsproblemen aufgerieben werden.
Nach attidtude becomes form und dem 80er Jahre Chic des form becomes attitude, kann nur die Neuaufnahme des Diskurses über Inhalt und Methode in Referenz zu den Ideen und Manifestationen der 60er Jahre die Implosion durch eine selbstzerstörerische Autopoetik verhindern.
Thomas Sakschwesksi, Berlin 1992